Mark Rothermel - Version 3.2
Dieses Mini-Wiki bündelt alle wichtigen Informationen rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme.
Zusammenfassung
Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter einigen Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der Bundestagswahl 2021 und 22,3% bei der Landtagswahl im Saarland 2022). Der Stimmenverlust ist nicht nur ein Einschnitt in die Chancengleichheit der Wähler, sondern schwächt auch die Repräsentativität des Wahlergebnisses und damit die Legitimität des Wahlsiegers. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen. Zusätzlich begünstigt das Wahlsystem extremistische Kandidaten und fördert Polarisierung. Kleine und neue Parteien oder Kandidaten werden durch das taktische Wahlverhalten künstlich benachteiligt.
Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene (Decker, 2016; Jesse, 2016; Holste, 2007; Dilger, 2021), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der Ersatzstimme. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler freiwillig eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte (Dilger, 2021; BVerfG-Urteil, 2017; Benken, 2022), sondern bringt einige weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens (Hellmann, 2016), Depolarisierung, Kosteneinsparungen durch Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung und Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht.
Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern könnte. Zudem ist die Auszählung aufwendiger und die Ergebnisse sind etwas anspruchsvoller nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde.
Ein besonders aktuelles Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdienstes in Brandenburg (Lenz, 2024) kam zum Schluss, dass die Ersatzstimme verfassungskonform ist. Diese Einschätzung wird auch “vielfach” von der rechtswissenschaftlichen Literatur geteilt (Wiss. Dienst d. BT, 2022). Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen (BVerfG Leitsatz, 2017). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel (BVerfG-Pressemitteilung, 2024) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf.
In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Ermittlung alternativer Wahlkreissieger für den Fall fehlender Zweitstimmendeckung diskutiert, jedoch nicht umgesetzt. Seit 2024 wird in Brandenburg die Einführung der mit der Ersatzstimme verwandten “Integrierten Stichwahl” diskutiert (Lenz, 2024).
Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahlsysteme, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl Präferenzwahlen komplizierter sind als die Ersatzstimme, wurden sie seit 2000 in rund 50 Regionen und Städten der USA implementiert (FairVote). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen angewendet.
Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft, die Gutachten und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland ist.
Einleitung: Wir brauchen eine Wahlreform
Im August 1949 fand die erste Bundestagswahl statt. Seit nun über 75 Jahren ist das deutsche Wahlsystem das Fundament eines bislang stabilen und geregelten politischen Systems, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe steht. Mit der personalisierten Verhältniswahl hat Deutschland ein Wahlsystem, das die Vielfalt der politischen Meinungen im Land abbildet und zugleich Dank 5%-Hürde stabile und arbeitsfähige Mehrheiten schafft.
Als Demokrat schätzt man das deutsche Wahlsystem. Ein ehrlicher Demokrat erkennt jedoch, dass selbst ein so bewährtes System Schattenseiten aufweist. Stimmenverluste durch die 5%-Hürde, die Schwächung kleiner Parteien, das taktische Wahlverhalten und die Förderung von Extremismus und Polarisierung sind einige davon. Ein wirklich wahrer Demokrat entwickelt Reformen, um diese Probleme zu lösen und die Demokratie zu stärken.
Nach nun 75-jährigem Bestehen ist Zeit für eine tiefgehende Reform des deutschen Wahlsystems, um seine Schwächen zu lösen - weitreichender als jede Wahlreform der letzten Jahrzehnte. Als konstruktiven Beitrag zur Reformdebatte schlägt dieses Wiki die Einführung des Systems der Ersatzstimme für das deutsche Wahlsystem vor. Dabei bezeichnet das “deutsche Wahlsystem” die momentan geltenden Regeln für alle öffentlichen Wahlen in Deutschland, insb. die Bundestagswahl (BTW), jede Landtagswahl (LTW), Bürgermeisterwahlen, Landratswahlen, etc.
Die Probleme des deutschen Wahlsystems
1. Es verschwendet Stimmen
Die Nicht-Berücksichtigung von Wählerstimmen verletzt die Gleichheit der Wahl (Dilger, 2021). Rund 4 Millionen Stimmen gingen bei der BTW 2021 durch die 5%-Hürde verloren, das waren 8,7% der Stimmen. Viel extremer war es bei der LTW im Saarland 2022, bei welcher 22,3% der Stimmen unberücksichtigt blieben.
Bei LTWen der letzten vier Jahre verlor im Mittel mehr als jeder zehnte Wähler seine Stimme, während es Anfang der 70er noch nur rund 3% der Wähler waren. Der steigende Trend unberücksichtigter Wählerstimmen bei LTWen ist tatsächlich deutlich an folgender Grafik erkennbar (entnommen von wahlreform.de): Der Trend erklärt sich vor allem anhand von zwei Phänomenen:
- Die Parteien sind kleiner, aber mehr geworden. Die Zeiten großer Volksparteien sind vorbei und die Wählerstimmen verteilen sich über eine größere Anzahl Parteien, auch Kleinstparteien..
- Die Wählerbindung an Parteien ist geringer geworden: Dadurch ist die Bereitschaft der Wähler, sich von etablierten Parteien abzuwenden, grundsätzlich größer.
Der Stimmverlust beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit (von Prittwitz, 2003).
2. Es begünstigt Extremisten
Für den Sieg eines Extremisten reicht bereits die größte Minderheit, ganz egal, wie sehr er sich zum Feind der übrigen Mehrheit gemacht hat. Direktwahlen bei LTWen oder der BTW sehen keine Stichwahl vor, wodurch ein Wahlsieger mit einem gering legitimierenden Stimmenanteil hervorgehen kann, wie bspw. Marek Erfurth von der AfD, der bei der Thüringer LTW 2024 mit nur 26,7% der Stimmen den Wahlkreis Erfurt IV gewann (thueringen.de, 2024), nur 1,3 Prozentpunkte vor der CDU-Kandidatin. Der AfD-Kandidat ist Sieger, obwohl er wahrscheinlich in einer hypothetischen Stichwahl gegen jeden anderen Kandidaten verloren hätte.
Weil es für einen Extremisten also bereits genügt, nur die größte Minderheit zu erlangen, ist unerheblich, wie die übrige Wählerschaft zu ihm steht - ob akzeptierend oder stark ablehnend, ist nicht relevant. Infolgedessen schadet es dem Kandidaten nicht, wenn er die Wähler der anderen Lager verschreckt. Im Gegenteil: Es ist für den Kandidaten förderlich, wenn er möglichst aus den anderen Kandidaten heraussticht und viel Bühnenfläche erhält. Dies ist eine offene Einladung für Populismus, Polemisierung und Extremismus. Mit diesen Mitteln kann sich der Kandidat in den Vordergrund stellen, ohne etwas zu verlieren. Die Folge ist eine Verstärkung der Polarisierung der Gesellschaft.
Da sich gemäßigte Kandidaten und Parteien des demokratischen Lagers außerdem gegenseitig die Stimmen wegnehmen (s. u.), fördern sie so den Sieg von Extremisten. Mehr demokratische Kandidaten bedeuten bessere Siegchancen für den Extremisten.
Die Sperrklausel ist für heranwachsende Radikalparteien wohl durchlässiger als für gemäßigte Parteien. Denn wer in der aktuellen Gesellschaft radikal auftritt, hat bessere Chancen, die 5%-Hürde zu überwinden.
3. Es repräsentiert den Wählerwillen ungenau
Wenn wir die klassische Erst- und Zweitstimme als getrennte Wahlen betrachten, darf jeder Wähler bei jeder Wahl nur ein einziges Kreuz setzen. Dieses einzelne Kreuz transportiert nur sehr begrenzt viel Information. Insbesondere kann der Wähler mit dem einen Kreuz nicht ausdrücken, welcher Kandidat oder welche Partei ihm am zweitliebsten wäre. Die Folge ist, dass
- …in der Mehrheit unbeliebte Kandidaten gewinnen können (s. bspw. Erfurt IV oben),
- …Kleinstparteiwähler bei der Sitzverteilung von etablierten Parteien unberücksichtigt bleiben oder Kleinstparteiwähler taktisch wählen (s. u.) und
- …Wähler von aussichtsschwachen Kandidaten bei den Siegchancen von aussichtsreichen Kandidaten nicht mitbestimmen können (s. OB-Kandidaturen in Darmstadt unten) oder taktisch wählen (s. u.).
Im aktuellen System kann es außerdem zur Mehrheitsumkehr kommen, also dass ein politisches Lager, das die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, nicht die Mehrheit der Mandate erhält, weil ein kleinerer Koalitionspartner an der Hürde scheiterte (Benken, 2022; Graeb & Vetter, 2018). Das führte bei der Bundestagswahl 2013 zu einer bürgerlich-rechten Mehrheit nach Stimmen, aber einer linken Mehrheit nach Mandaten. Bei der Brandenburger LTW 2024 erreichte die AfD eine Sperrminorität, obwohl 70% der Wähler Mitte oder links gewählt haben. Allerdings scheiterten 14,3% der Stimmen an der Sperrklausel und 13,4% davon gingen an Mitte und links orientierte Parteien. Wären bereits 2% der verlorenen Stimmen berücksichtigt geblieben, hätte die AfD keine Sperrminorität erreicht. Ein solches Szenario könnte sich auch in einer künftigen BTW ereignen.
Zusammengefasst ist das resultierende Wahlergebnis deutlich ungenauer als es sein sollte. Je treuer die Widerspiegelung des Wählerwillens, desto besser das Wahlsystem.
4. Es verursacht vermeidbare Kosten
Stichwahlen kosten Geld. Zahlen des Niedersächsischen Innenministeriums (niedersachsen.de, 2013) legen nahe, dass die Durchführungskosten einer Stichwahl inflationsbereinigt bei rund 87ct pro Einwohner liegen. Eine Stadt wie Frankfurt muss also rund 650.000 Euro aufwenden, um eine OB-Stichwahl durchzuführen. Unter der Annahme, dass rund die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland alle vier Jahre nicht nur einen (Ober-)Bürgermeister, sondern auch einen Landrat wählt, kommen so rund 110 Mio. Euro zusammen, die im Schnitt alle vier bis fünf Jahre für Stichwahlen ausgegeben werden. Ein kosteneffizientes Wahlsystem würde den Stichwahlgang in den ersten Wahlgang integrieren, ohne dabei die Ausdrucksfähigkeit der Bürger zu beschränken.
5. Es fördert taktisches Wahlverhalten
Wähler von kleinen Parteien oder aussichtsschwachen Kandidaten sehen sich dem Risiko ausgesetzt, ihre Stimme zu vergeuden: Bei kleinen Parteien könnte die Stimme durch die 5%-Hürde unwirksam werden und bei der Wahl eines aussichtsschwachen OB-Kandidaten würde der Wähler seine Möglichkeit aufgeben, bei den aussichtsreichen Kandidaten mitzubestimmen. Beides führt zu einem Dilemma, was den Wähler dazu veranlasst, seine Stimme einer Option zu geben, die nicht seiner Erstpräferenz entspricht. Dies führt zu einem verfälschten Wahlergebnis und somit zu einer verschobenen Parteienfinanzierung.
Ein gutes Wahlsystem würde es dem Wähler gestatten, risikofrei seine Erstpräferenz zu wählen.
6. Es benachteiligt kleine Parteien und aussichtsschwache Kandidaten
Taktisches Wahlverhalten (s. o.) führt dazu, dass die Siegchancen von aussichtsschwachen Kandidaten und kleinen oder neuen Parteien sinken (Dilger, 2021). Potenziell beliebte Newcomer haben es dadurch besonders schwer, was als innovationshemmend betrachtet wird (von Prittwitz, 2003).
Ein gutes Wahlsystem würde Kleinparteien und aussichtsschwachen Kandidaten nicht die ohnehin schon kleinen Gewinnchancen zusätzlich und künstlich schmälern.
7. Es hemmt Kandidaturen
Wenn mehrere Kandidaten desselben Lagers antreten, nehmen sie sich gegenseitig die Stimmen weg. So hatte in Darmstadt bei der OB-Wahl 2023 die Kandidatur der FDP-Kandidatin wohl dazu geführt, dass der CDU-Kandidat es sehr knapp nicht mehr in die Stichwahl schaffte. Dabei wäre aus Sicht der FDP und vieler FDP-Wähler ein Sieg des CDU-Kandidaten besser gewesen. Der CDU-Kandidat hätte in einer Stichwahl voraussichtlich gegen jeden der beiden Kandidaten von Grüne und SPD gewonnen. Wohl wegen der FDP-Kandidatur wird Darmstadt nun jedoch von einem SPD-OB regiert und nicht von einem CDU-OB. Dieser Effekt wird auch Spoiler-Effekt (Veritasium, 2024) genannt. Taktisch wäre es aus Sicht der FDP und ihrer Wähler klug gewesen, gar nicht erst zu kandidieren.
Analog schmälern sich die Kandidaten des demokratischen Lagers gegenseitig ihre Siegchancen gegenüber extrem orientierten Kandidaten, wenn mehr Demokraten antreten. Demokraten müssten also weniger werden, um besser gegen Extremisten zu bestehen. Bei Parteien “bedeutet jeder Wahlantritt einer Unter-5-Prozent-Partei, dass sie dem politischen Lager, in dem diese Partei beheimatet ist, Stimmen wegnimmt und ‘vernichtet’.” (Institut für Wahlrechtsreform)
Taktischer Kandidaturverzicht ist eine Konsequenz des gegenwärtigen Wahlsystems. Um die Chancen der Kandidaten desselben Lagers zu steigern, müssen sie weniger werden. Eine Wahl lebt aber von ihren Wahlmöglichkeiten. Je mehr Optionen dem Wähler zur Verfügung stehen, desto besser. Ein gutes Wahlsystem sollte eine Kandidatur zulassen, ohne dass die Kandidatur die generellen Siegchancen des Lagers des Kandidaten senkt.
8. Es senkt die Wahlbeteiligung
Es ist üblich, dass deutlich weniger Wähler an Stichwahlen teilnehmen als am ersten Wahlgang (Holste, 2007), in Darmstadt waren es bei der OB-Wahl 2023 etwa 20% weniger. In 35% der Fälle führt die Stichwahl sogar zu einer geringeren Zustimmung des Siegers verglichen mit dem Sieger des ersten Wahlgangs (Mehr Demokratie Bremen, 2010). Die Folge ist ein weniger stark legitimierter Wahlsieger.
Ein Wahlsystem, das möglichst gut legitimierte Wahlsieger hervorbringen soll, braucht eine möglichst hohe Wahlbeteiligung. Die Vereinigung von zwei Wahlterminen in einen einzigen würde dazu beitragen.
9. Es bringt gering legitimierte Wahlsieger hervor
Bei der BTW 2021 gab es nur einen Direktkandidaten, der in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit gewann. Das durchschnittliche Stimmergebnis der Wahlkreissieger lag deutschlandweit bei lediglich 33%. In Dresden II gewann Lars Rohwer mit lediglich 18,6% der Stimmen (Bundeswahlleiterin, 2021).
Ein gutes Wahlsystem soll auch bei einer breit verteilten Stimmenverteilung einen stark legitimierten Wahlsieger finden können.
10. Es verwirrt die Wähler
Umfragen zufolge können im aktuellen Wahlsystem nur 28% der deutschen Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme richtig zuordnen (pollytix). Laut einer Tiefenbefragung (KAS, 2019) liegt der Hauptgrund an der wenig informativen sowie irreführenden Benennung der beiden Stimmen: Demzufolge schätzten die meisten Befragten die Erststimme als die wichtigere ein, weil die Namen eine Rangfolge suggerieren.
In einem guten Wahlsystem sollen Wähler ihren Willen bestmöglich auf Papier bringen können, ohne durch irreführende Bezeichnungen getäuscht zu werden.
Terminologie
Was ist die Ersatzstimme?
Eine Ersatzstimme ist eine zusätzliche Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann. Die Ersatzstimme (auch Alternativstimme oder Eventualstimme) genannt, zählt nur dann, wenn die eigentliche Stimme (die Hauptstimme) wirkungslos war, etwa wegen der 5%-Hürde.
Die Stimme für die erste Präferenz wird auch als Hauptstimme bezeichnet. Mit “Ersatzstimme” ist je nach Kontext die Wählerstimme oder das Wahlsystem gemeint. Das System der Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der Präferenzwahl.
Musterstimmzettel
Die Bundestagswahl 2021 hätte mit Ersatzstimme auf dem Stimmzettel so aussehen können (hier “Wahlkreisstimme” statt “Erststimme” und “Listenstimme” statt “Zweitstimme”, um mögliche Verwechslungen zu vermeiden).
Aggregationsverfahren
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die abgegebenen Stimmen in die Verteilung der Mandate zu übersetzen. Diese Verfahren werden als Aggregationsverfahren (oder Auszählungsverfahren) bezeichnet. Von ihnen hängt das genaue Resultat ab.
Ein geeignetes Aggregationsverfahren ist das der Integrierten Stichwahl (s. auch Dilger (2021) ). Bei diesem iterativen Verfahren werden im ersten Schritt nur die Hauptstimmen auf alle Optionen verteilt. Hat (im Falle einer Mehrheitswahl) kein Kandidat die nötige Mehrheit oder unterliegt (im Falle einer Verhältniswahl) eine Partei einer Sperrklausel, so wird die Option mit den wenigsten Hauptstimmen eliminiert und ihre Stimmen gemäß der Ersatzstimmen auf die übrigen Optionen übertragen. Dieser Schritt der Eliminierung wird solange mit der jeweils stimmschwächsten Option wiederholt bis (im Fall der Mehrheitswahl) ein Sieger feststeht bzw. (im Fall der Verhältniswahl) keine Partei mehr einer Sperrklausel unterliegt.
Variationen
Einstufige Übertragung
Oben wurde die mehrstufige Aggregation beschrieben. Diese kann stattdessen einstufig erfolgen, indem alle Optionen unterhalb der Sperrklausel bzw. alle Kandidaten bis auf die besten zwei auf einmal eliminiert werden. Dieses Verfahren hat die Vorteile, dass es einfacher ist und paradoxe Spezialsituation vermeidet, in der es vorteilhaft sein kann, eine verhasste Option zu wählen.
Eingeschränkte Übertragung
In dieser Variante könnte es Parteien bzw. Kandidaten gestattet werden, zu bestimmen, welche anderen Parteien bzw. Kandidaten nach ihnen als Ersatz erlaubt sind. Ein OB-Kandidat der SPD könnte bspw. bestimmen, dass im Falle seines Ausscheidens seine Stimmen an alle außer den AfD-Kandidaten übertragen werden dürften.
Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat die Wahlfreiheit des Wählers einschränkt (Verletzung der Bedingungslosigkeit der Wahl).
Festgelegte Übertragung
Bei dieser Variante gibt es de facto keine Ersatzstimmen, sondern die Parteien bzw. Kandidaten bestimmen, an wen ihre Stimmen im Falle des Ausscheidens übertragen werden sollen. Im allgemeinsten Fall können Parteien frei wählen, wie ihre Stimmen anteilig an die übrigen Parteien übertragen werden sollen.
Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat über die Stimme des Wählers entscheidet (Verletzung der Unmittelbarkeit der Wahl).
Bewertung der Ersatzstimme
Stärken
1. Weniger unberücksichtigte Stimmen
Mit einer Ersatzstimme wird es von vorneherein unwahrscheinlicher, dass der Wähler seine Stimme komplett verliert. Eine Studie (Graeb & Vetter, 2018) mit knapp 900 Wählern zeigte sogar, dass der Wähler explizit die Ersatzstimme dafür einsetzt, um berücksichtigt zu bleiben, indem er die Stimme einer etablierten Partei gibt.
Ersatzstimmen würden den sperrklauselbedingten Eingriff in die Wahlgleichheit vermindern (BVerfG Leitsatz, 2017), weil mehr Stimmen berücksichtigt werden. Dadurch wird die Gleichheit des Erfolgswerts der Stimmabgabe verbessert. Wähler haben also ähnlichere Chancen, die Zusammensetzung des Gremiums zu beeinflussen, als im jetzigen System.
2. Bessere Repräsentation des Wählerwillens
Wähler können mithilfe der Ersatzstimme ihren Wählerwillens präziser ausdrücken (Hellmann, 2016). Haupt- und Ersatzstimme transportieren gemeinsam mehr Information als eine einzelne Stimme. Infolge der erhöhten Ausdrucksfähigkeit spiegelt das Gesamtwahlergebnis den Willen der Wähler besser wider.
Dank der verminderten taktischen Stimmabgabe wird auch das Wahlergebnis weniger verzerrt. Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Wählerpräferenz wider (Decker, 2016) und ist so für die Parteienfinanzierung deutlich besser geeignet als im Fall ohne die Ersatzstimme.
Die Ersatzstimme mildert außerdem das Risiko einer Mehrheitsumkehr (Benken, 2022; Graeb & Vetter, 2018).
3. Weniger Extremismus und Polarisierung
Jeder Kandidat muss nicht nur um Hauptstimmen, sondern auch um Ersatzstimmen werben. Dies gelingt nur, indem er sich in die Gunst der Wähler der anderen Lager begibt. Negative Campaigning, Hardlinertum oder Polarisierung werden kontraproduktiv, weil der Kandidat so die Wähler anderer Lager verschrecken würde. Der Kandidat wird also zu einem gemäßigteren Umgang und zu einer differenzierteren Debatte angeregt. Dieser Effekt würde bei Mehrheitswahlen besonders stark sein, da es bei der Mehrheitswahl nur einen Sieger geben kann. 2013 konnte dieser Effekt bei der Bürgermeisterwahl in Minneapolis besonders gut beobachtet werden (Veritasium, 2024): Trotz der schieren Zahl an 35 Bürgermeisterkandidaten verlief der Wahlkampf äußerst harmonisch und konstruktiv, weil sich die Kandidaten aufgrund des Anreizes der Ersatzstimmenwerbung nicht anfeindeten. In einem System ohne Ersatzstimmen wäre Polarisierung und Populismus eine vermutlich erfolgreiche Strategie gewesen.
Gewinnen wird der Kandidat mit dem meisten Rückhalt. Das ist der Kandidat, der für die meisten Wähler der Lieblingskandidat oder ein Kompromisskandidat ist, was in der Regel seltener ein Extremkandidat am Rande des politischen Spektrums ist. Im Gegensatz dazu bieten gemäßigte Kandidaten mehr Potenzial für Konsens, wodurch sie mehr Ersatzstimmen erhalten. Im Ergebnis bringt ein Ersatzstimmensystem seltener Extremisten als Wahlsieger hervor (Benken, 2022). Dies ist keine Bevorzugung von Mitte-Kandidaten in dem Sinne, dass sie einen unfairen Vorteil erhielten, sondern weil dies dem Wählerwillen besser entspricht.
Außerdem würden sich im Ersatzstimmensystem die Wahlbewerber der gemäßigten, demokratischen Lager weniger stark die Stimmen rauben, weil die Ersatzstimme die Übertragung der Wählerstimme von einem gemäßigten Kandidaten auf einen anderen gemäßigten ermöglicht.
4. Reduktion von taktischem Wahlverhalten
Die Ersatzstimme kompensiert den Verlust der Hauptstimme. So kann der Wähler mit der Hauptstimme seine tatsächliche Erstpräferenz wählen, ohne ein Risiko einzugehen, da die Stimme im Fall des Verlusts der Hauptstimme Dank der Ersatzstimme nicht verloren ist. Die Ersatzstimme schafft den psychologischen Druck der 5%-Hürde ab (Graeb & Vetter, 2018). Taktisches Wahlverhalten wird von der Haupt- auf die Ersatzstimme verlagert. Die Ersatzstimme vermindert außerdem den Spoiler-Effekt, bei welchem der Wähler durch die Wahl eines aussichtsschwachen Kandidaten den Sieg seines zweitliebsten, aber aussichtsreichen Kandidaten ungewollt verhindert.
5. Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht
Mit einer Ersatzstimme können ähnlich profilierte Kandidaten antreten, ohne gegenseitig die Erfolgsaussichten allzu sehr zu verschlechtern.
6. Höhere Wahlbeteiligung
Weil Wähler mehr Erfolgschancen in ihrer Stimme erkennen, würden sie eher den Versuch unternehmen, Einfluss auf das Wahlergebnis auszuüben (Benken, 2022).
Weil außerdem die Wähler ihre Stichwahlstimme bereits im ersten Wahlgang mithilfe der Ersatzstimme abgeben können und nicht extra ein zweites Mal wählen gehen müssen, wird so ein Ergebnis mit geringer Wahlbeteiligung vermieden (Kimball, 2016).
7. Bessere Legitimation & Akzeptanz von Wahlsiegern
Gewinnen würde bei einer Mehrheitswahl mit Ersatzstimme fortan nicht mehr der Kandidat mit einer einfachen Mehrheit der Hauptstimmen, sondern der Kandidat mit dem meisten Rückhalt. Dies ist der Kandidat, der für die meisten Wähler der Lieblingskandidat oder ein Kompromisskandidat ist. Es würde also nicht mehr genügen, bloß die größte Minderheit für sich zu gewinnen, sondern der Kandidat müsste auch als echte Alternative für eine hinreichende Menge an Wählern in Frage kommen. Folglich ist zu erwarten, dass das Ersatzstimmensystem Sieger hervorbringen würde, die im Mittel besser akzeptiert sind und das Repräsentationsgefühl der Bürger steigern (Graeb & Vetter, 2018).
Weil auch in absoluten Zahlen mehr Stimmen im Gesamtergebnis Berücksichtigung finden werden, ergibt sich eine verbesserte Legitimation (Benken, 2022). Dank der erhöhten Repräsentativität des Wahlergebnisses sowie der gesteigerten Wahlbeteiligung sind Wahlsieger ebenfalls besser legitimiert als im herkömmlichen System.
8. Kosteneinsparung durch Integrierung von Stichwahlen
Die Ersatzstimme fungiert gedanklich wie ein zweiter Wahlgang. Gesonderte Stichwahlen werden dadurch überflüssig, wodurch ein zweiter Wahlgang, Wahlkampf und Wahldurchführungskosten gespart werden, ohne den Wähler in der Mitteilung seines Wählerwillens einzuschränken (Benken, 2023).
9. Geringere Eintrittsschwelle für Newcomer
Selbst mit unveränderter Sperrklausel steigt die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg neuer Wahlbewerber, weil sie deutlich weniger unter taktischem Wahlverhalten leiden. So könnten sich bspw. neue, gemäßigte Parteien etablieren, die eine bessere Alternative zu den großen bzw. Regierungsparteien sind im Gegensatz zur AfD und zum BSW.
10. Unverfälschte Stimmenstatistik
Die Verteilung der Hauptstimmen spiegelt die tatsächliche Favorisierung der Wähler wider und würde so eine Statistik liefern, die akkurater ist als jede andere bisher zur Verfügung stehende Statistik der Wählergunst (Graeb & Vetter, 2018). Dadurch eignet sich die Verteilung der Hauptstimmen besonders als Grundlage für die Ermittlung der Zuschüsse für die Parteien.
11. Erhalt der 5%-Hürde
Mit der Ersatzstimme könnte ein System geschaffen werden, in welchem die 5%-Hürde auch ohne Grundmandatsklausel möglicherweise verfassungskonform ist. In jedem Fall kann die 5%-Hürde in ihrer vollen Höhe beibehalten werden, sodass die Sperrklausel am Konzentrationseffekt nicht einbüßen muss (Graeb & Vetter, 2018).
Schwächen
Einige der Schwächen können mit ergänzenden Maßnahmen abgemildert werden.
1. Erhöhte Komplexität
Das System der Ersatzstimme ist offensichtlich komplizierter als das bisherige System.. Die zusätzliche Stimme könnte manche Wähler möglicherweise überfordern. Die deutlich komplexeren Kommunalwahlsysteme in Hessen und Bayern machen allerdings bereits vor, dass die Wähler selbst mit solch besonders schwierigen Systemen umgehen können.
Mit der Umbenennung von “Erststimme” in “Wahlkreisstimme” und “Zweitstimme” in “Listenstimme” wird zumindest die suggerierte, aber irreführende Rangfolge (“Erst-” vs. “Zweit-”) vermieden, wodurch eine wichtige Fehlerquelle (KAS, 2019) behoben wird.
Bei der Ersatzstimme ist sich die Literatur uneinig, ob die Komplexitätszunahme die Schwelle zur fehlenden “Normenklarheit” überschreitet (Wiss. Dienst d. BT, 2022).
2. Ungewohntheit
Die Ersatzstimme ist ein noch in der Öffentlichkeit recht unbekanntes System. Dieser psychologische Nachteil lässt sich jedoch überwinden, da ein Gewöhnungseffekt einsetzen würde (Jesse, 1985, Graeb & Vetter, 2018). Mit ergänzenden Maßnahmen kann die Umgewöhnung schneller vorangetrieben werden.
3. Erhöhtes Risiko ungültiger Stimmen
Der Wahlzettel bietet dem Wähler mehr Freiheitsgrade und damit auch mehr Möglichkeiten, beim Ausfüllen Fehler zu begehen. Bisherige Praxiserfahrungen zeigen aber, dass die Fehlerrate selbst im deutlich komplizierteren Fall der Präferenzwahl weiterhin gering ist (Institute for Mathematics and Democracy, 2024), so betrug der Anteil ungültiger Stimmzettel bei der Bürgermeisterwahl in San Francisco 2005 nur 0,4% (New America Foundation & FairVote, 2008), unabhängig davon ob die Wähler das System vorher bereits kannten oder nicht. Zum Vergleich: Die Zahl ungültiger Stimmen bei der BTW 2021 betrug rund 1% (Wikipedia).
4. Anspruchsvollere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse
Die Aggregation (Übersetzung von Stimmverteilung in Mandatsverteilung) ist bei der Ersatzstimme komplexer als im bisherigen System. Während bisher ein einfaches Balkendiagramm zur Visualisierung der Stimmverteilung genügte, benötigt man bei der Ersatzstimme eine andere Darstellungsform. Möglich ist ein gestapeltes Balkendiagramm aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen (s. Beispiel). Für die Visualisierung der Übertragung der Ersatzstimmen während der Aggregation kommen ein Sankey-Diagramm (s. auch hier) oder ein iterativ animiertes Balkendiagramm in Frage.
5. Potenziell mehr Parteien in Koalitionen
Das System der Ersatzstimme behebt die Benachteiligung von kleinen Parteien. Dadurch steigt der Hauptstimmenanteil für kleine Parteien (Graeb & Vetter, 2018), was die Überwindungswahrscheinlichkeit der Sperrklausel für kleine Parteien erhöht. Infolgedessen könnte sich die Zahl der Parteien im Parlament und damit auch in Koalitionen (trotz gleichbleibender Sperrklausel) vergrößern.
6. Erhöhter Auszählungsaufwand
Die Einführung der Ersatzstimme erhöht die Anzahl auszuwertender Stimmen um den Anteil der Wähler, der auch Gebrauch von der Ersatzstimme gemacht hat. Es wird geschätzt, dass im Fall der Zweitstimme nur 20% der Wähler Gebrauch von der Ersatzstimme machen werden, wodurch der erhöhte Auszählungsaufwand überschaubar wäre. Bei der Erststimme könnten es mehr sein. Siehe Ergänzende Maßnahmen für eine mögliche Implementierung des Stimmenauszählungsverfahrens, welches die zusätzliche Auszähldauer gering hält.
7. In der Theorie nicht perfekt
In der Sozialwahltheorie gibt es eine Reihe von Kriterien zur Beurteilung von Wahlsystemen. Wünschenswerte Wahlsysteme erfüllen möglichst viele Kriterien. Die Ersatzstimme erfüllt mehrere Kriterien nicht, z.B. verletzt sie das Condorcet-Kriterium. Allerdings können laut Arrow-Theorem ohnehin schon in der Theorie nicht alle Kriterien auf einmal erfüllt werden (s. auch Wikipedia) . In der Tat gibt es kein Wahlsystem, das “perfekt” ist (Hellmann, 2016). Der Anspruch einer Wahlrechtsreform muss jedoch nicht sein, perfekt zu sein, sondern das jetzige Wahlsystem in wesentlichen Punkten zu verbessern.
Verfassungskonformität
Während vorangehende Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme unentschieden waren (Wiss. Dienst d. LT von Schleswig-Holstein, 2015, Wiss. Dienst d. BT, 2022), befand das sehr aktuelle und ausführliche Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdiensts des Brandenburger Landtags (Lenz, 2024) die Ersatzstimme für verfassungskonform. Gestützt wird diese Einschätzung von der Rechtswissenschaft, die die Ersatzstimme übereinstimmend “vielfach als verfassungskonform betrachtet” (Wiss. Dienst d. BT, 2022).
Besonderheiten und mögliche weitere Effekte der Ersatzstimme
- Mehr Aufmerksamkeit für kleine Parteien: Weil auch Kleinparteien eine ernsthafte Wahloption darstellen (Graeb & Vetter, 2018), könnten sich im Vorfeld der Wahl die Wähler womöglich mehr mit ihnen auseinandersetzen. Außerdem wollen die großen Parteien die Ersatzstimmen der kleinen Parteien erhalten, wodurch ein Anreiz entsteht, dass die großen Parteien die Wünsche von Kleinpartei-Wählern adressieren (Institut für Wahlreform).
- Auf diese Weise können große Parteien neue Wählerschichten erschließen (Benken, 2022), indem sie nämlich Ersatzstimmen von Wählern erhalten, sie nur Kleinparteien wählen, aber ihre Ersatzstimme zur Absicherung nutzen. Dieser Effekt erhöht auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Kleinpartei-Wähler bekommen das Gefühl, mit ihrer politischen Meinung am Ende doch noch ernst genommen zu werden. So kann die Ersatzstimme die Identifikation mit dem System der repräsentativen Demokratie erhöhen (Institut für Wahlreform).
- Die Ersatzstimme zieht die negativen Eigenschaften der Hauptstimme auf sich. Das betrifft insbesondere Wählerdilemmas, die zum taktischen Wählen zwingen. Die Hauptstimme kann gänzlich gemäß der Vorliebe des Wählers vergeben werden.
- Im Ersatzstimmensystem werden Koalitionswünsche sichtbar: Durch die auftretenden Kombinationen aus Haupt- und Ersatzstimmen wird ersichtlich, welche Partei wie häufig mit welcher anderen Partei angegeben wurde, eine unvergleichbare Datengrundlage, die den Wählerwillen bzgl. der Koalitionsbildung widergibt.
- Neueinsteiger im Bundestag waren bei den letzten Malen immer extreme Parteien (AfD und BSW). Eine Ersatzstimme könnte zu Newcomern aus der Mitte verhelfen.
Erfahrungen mit der Ersatzstimme
Ersatzstimmeninitiativen in Deutschland
In Deutschland gab es bereits in zwei Landtagen (Schleswig-Holstein 2012 - 2016 und Saarland 2015) den Versuch, die Ersatzstimme auf politischem Wege einzuführen. Beide Initiativen scheiterten. Im Zuge der Bundestagswahlrechtsreform von 2022 wurde die Ersatzstimme kurzzeitig für die sehr spezielle Situation von Wahlkreissiegern mit fehlender Zweitstimmendeckung diskutiert, jedoch verworfen. Aktuell wird in Brandenburg die Einführung der Integrierten Stichwahl debattiert.
2011 versuchte ein Bürger per öffentlicher Petition die Einbringung der Ersatzstimme in den Bundestag. “In der achtwöchigen Mitzeichnungsfrist hatten sich nicht einmal 400 Unterstützer gefunden. Der Bundestag lehnte den Vorstoß im April 2011 ab.” (SHZ)”
Mehr Demokratie e.V. setzt sich für diverse demokratiefördernde Reformen ein, darunter für die Ersatzstimme, s. bspw. ihren Bericht und Aufzeichnung ihrer “InitiativTagung” zur Ersatzstimme oder ihre Online-Petition. Konkret unternahm Mehr Demokratie e.V. den Versuch, die Ersatzstimme in Berlin einzuführen. “Die Innenbehörde des Senats erklärte den Vorstoß […] für rechtlich nicht zulässig; die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Wahl“.” (SHZ)
Eine Probeabstimmung auf Abstimmung21 ergab eine Unterstützung von 72% für die Ersatzstimme, wobei viele der übrigen Stimmabgaben Enthaltungen waren.
Die Ersatzstimme und verwandte Wahlsysteme in anderen Ländern
Als einzige Region der Welt, in der die Ersatzstimme in der hier beleuchteten Form genutzt wurde, war Großbritannien, was die Ersatzstimme jedoch 2022 wieder abschaffte. Gegenwärtig ist kein öffentliches Wahlsystem auf der Welt bekannt, das die Ersatzstimme nutzt. Allerdings existieren zahlreiche Regionen, die das deutlich komplexere System der Präferenzwahl anwenden, welches eine Verallgemeinerung der Ersatzstimme ist.
Folgende Länder und Regionen haben die Ersatzstimme oder die Präferenzwahl implementiert (klicke auf den Ländernamen für eine detaillierte Zusammenfassung der dortigen Situation).
Region | Amt/Gremium | Wahlsystem | Aggregation | Eingeführt |
---|---|---|---|---|
Queensland | Legislative Assembly | Integrierte Stichwahl | einstufig | 1892 - 1942 |
Irland | Parlament | Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1921 |
Malta | Parlament | Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1921 |
Irland | Präsident | Integrierte Stichwahl | mehrstufig | 1938 |
Australien | Parlament | Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 1948 |
Ski Lanka | Präsident | Integrierte Stichwahl | einstufig | 1978 |
Indien | Präsident | Integrierte Stichwahl | mehrstufig | ? |
Großbritannien | Bürgermeister | Ersatzstimme | einstufig | 2000 - 2022 |
Regionen in den USA | Bürgermeister & Parlamente | Präferenzwahl | mehrstufig | 2000 |
Papua Neuginea | Parlament | Präferenzwahl bis Rang 3 | mehrstufig | 2003 |
Neuseeland | Lokale Parlamente & Bürgermeister | Integrierte Stichwahl & Übertragbare Einzelstimmgebung | mehrstufig | 2004 |
Für weitere Beispiele, siehe Wikipedia.
Literatur
Juristische Gutachten
Relevanteste zuerst:
- Gutachten des Parlamentarischen Beratungsdiensts des Brandenburger Landtags (2024) über die Integrierte Stichwahl für Bürgermeister- und Landratswahlen
- Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags (2022) über die Einführung der Ersatzstimme für den Fall, dass Wahlkreisgewinner aufgrund fehlender Zweitstimmendeckung ausscheiden
- Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags von Schleswig-Holstein (2015) über die Einführung einer Ersatzstimme für die dortige Landtagswahl
- Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2017) über die Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung einer Ersatzstimme
- Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2024) über die Verfassungsmäßigkeit der Bundestagswahlrechtsreform 2022
Wissenschaftliche Paper
- Decker (2016)
- Jesse (2016)
- Holste (2007)
- Graeb & Vetter (2018) untersuchten anhand einer Befragung die Auswirkungen der Ersatzstimme auf das Wahlverhalten.
- Dilger (2021) untersucht die Präferenzwahl als effektive Maßnahme gegen Stimmverluste durch Sperrklauseln.
- Hellmann (2016) beleuchtet den Single Transferable Vote (STV), eine Variante des Präferenzwahlrechts, als Alternative zur personalisierten Verhältniswahl.
Geläufige Irrtümer
Die Ersatzstimme ist für die Wähler zu kompliziert.
Behauptung: Wegen der zusätzlichen Stimme sind zu viele Wähler überfordert und verwirrt. Die Folge wären viele ungültige Stimmzettel. Außerdem sind die Wähler es gewohnt, nur eine Stimme zu vergeben.
Einordnung: Andere Länder wie Irland, Australien und Neuseeland sowie 50 Regionen in den USA wenden das wesentlich kompliziertere System der Präferenzwahl an. Die Erfahrungen dort zeigen, dass selbst die Präferenzwahl von den Bürgern gut verstanden wird. Fehlerraten liegen bei unter 1% (vgl., die BTW 2021 hatte rund 1% fehlerhafte Stimmzettel). Die Kommunalwahlen in Hessen und Bayern sind zudem ebenfalls erheblich Komplizierter als ein Ersatzstimmensystem und werden dennoch nicht als problematisch angesehen. Im Übrigen kann auch auf den neuen Stimmzetteln weiterhin nach den alten Regeln gewählt werden, ohne dass der Stimmzettel dadurch ungültig wird.
Die Ersatzstimme verletzt das Prinzip "One Man, One Vote".
Behauptung: Jeder Wähler kann im System der Ersatzstimme ja zwei Stimmen abgeben. Mit der Ersatzstimme verdoppeln sich folglich die Erfolgschancen eines Wählers.
Einordnung: Stimmt nicht. Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Misserfolg der Hauptstimme. “Im Ergebnis sind damit Zählwert und Erfolgschance der Ersatzstimmen und der dazugezählten [… Hauptstimmen der Hauptstimme] anderer Wähler formal gleich.” (Wiss. Dienst d. BT, 2022) Zählwertgleichheit und Erfolgschancengleichheit werden auch mit der Ersatzstimme gewahrt (Lenz, 2024).
Im engeren Sinne handelt es sich bei Haupt- und Ersatzstimme nicht um Stimmen, sondern um Stimmverfügungen (der Ausdruck einer Präferenz). Der Wähler kann also zwei Stimmverfügungen angeben, aber nur eine einzige Stimmverfügung kann am Ende wirken. Die wirkende Stimmverfügung repräsentiert dann die Stimme des Wählers.
Die Ersatzstimme fördert taktisches Wählen.
Beispiel: Es ist Bundestagswahl, die CDU liegt in den Umfragen vorn, die FDP nahe der 5%-Hürde. Ein CDU-Wähler hätte gerne die FDP als Koalitionspartner. Um ihr den Sprung über die Sperrklausel zu verhelfen, wählt der CDU-Wähler taktisch die FDP, denn er hat nichts zu verlieren: Entweder verhilft er der FDP wie gewünscht über die 5% oder seine Stimme geht an seine Lieblingspartei, die CDU.
Einordnung: Dieses Phänomen ist nicht neu und nennt sich “Leihstimme”. Leihstimmen waren schon in der Vergangenheit bereits ohne die Ersatzstimme vorgekommen, sogar im Rahmen von ganzen Kampagnen (Zeit Online, 2013). Der Unterschied liegt im Risiko, den der Wähler mit seiner Leihstimme eingeht. Ohne die Ersatzstimme könnte die Leihstimme verloren sein, wenn die FDP die Hürde nicht schafft. Mit Ersatzstimme ist dieses Risiko weg.
Warum das aber im Kontext der Ersatzstimme dennoch kein ausschlaggebendes Problem ist:
- In wesentlich mehr Fällen reduziert die Ersatzstimme taktisches Wählen, nämlich bei Wählern von kleinen Parteien oder aussichtsschwachen Kandidaten.
- Die taktische Wahl im obigen Szenario ist nicht durch den möglichen Verlust der eigenen Stimme erzwungen, sondern freiwillig und dadurch weniger bedenklich als erzwungenes taktisches Wählen.
- Das obige Szenario ist nicht selten, aber dennoch nicht der Regelfall, während andererseits regelmäßig Millionen von Kleinparteiwählern zur taktischen Wahl gezwungen werden.
- Speziell im obigen Szenario könnte außerdem folgendermaßen gegenargumentiert werden. Angenommen, die FDP würde an der Sperrklausel scheitern, dann gingen durch die Ersatzstimme ein großer Teil (vielleicht 50%) der FDP-Stimmen an die CDU. Dadurch hat die CDU am Ende vielleicht sogar mehr davon als von einer Koalition mit der FDP. Dieses Argument könnte CDU-Wähler davon abhalten, die FDP mit der Hauptstimme zu wählen.
Die Ersatzstimme benachteiligt bestimmte Kandidaten und Parteien und sollte daher nicht umgesetzt werden.
Behauptung: Durch die Einführung der Ersatzstimme ändern sich die Erfolgsaussichten der Wahlbewerber. Faktisch gibt es Wahlbewerber, deren Chancen sich dadurch verschlechtern. Deshalb darf die Ersatzstimme nicht eingeführt werden.
Einordnung: In der Tat beeinflusst eine Wahlsystemänderung faktisch die Erfolgschancen der Wahlbewerber (Lenz, 2024). Dies hat jede substantielle Änderung des Wahlrechts an sich und ist unproblematisch, solange für jeden Wahlbewerber unterschiedslos dieselben Regeln gelten. Problematisch wird es erst, wenn die Wahlreform von den politischen Entscheidungsträgern eingeführt wird, um die politische Konkurrenz gezielt zu benachteiligen (Benachteiligungsabsicht, s. auch Lenz, 2024). Demnach ist die Einführung der Ersatzstimme verfassungskonform, solange keine Benachteiligungsabsicht der Regierung besteht.
Außerdem: Würden wir keine Änderung der Wettbewerbschancen zulassen, wäre ein Wechsel des Wahlsystems grundsätzlich nicht mehr möglich. Unser Wahlrecht wäre dann versteinert.
Sieger kann nur der mit den meisten Hauptstimmen sein.
Einordnung: Mit der Ersatzstimme verändert sich die Definition von “Mehrheit” insofern, dass der Mehrheitssieger nicht mehr derjenige ist, der lediglich die meisten Hauptstimmen auf sich vereinen konnte, sondern den meisten Rückhalt hat, also die größte Summe aus Haupt- und übertragenen Ersatzstimmen. Der Rückhalt wiegt schwerer als die bloßen Hauptstimmen, weil der Rückhalt den Wählerwillen besser repräsentiert. Denn Dank der Ersatzstimmen enthält der Rückhalt auch die Meinungen der Wähler, die sonst im alten System gänzlich unberücksichtigt blieben. Entsprechend ist ein Kandidat mit dem größten Rückhalt besser legitimiert als ein Kandidat mit den meisten Hauptstimmen.
Auch wenn die Ersatzstimme lediglich die “zweitbeste” Wahl des Wählers angibt, ist sie ein probates Mittel, weil sie den Wähler vor vollständiger Ignorierung bewahrt.
Die Ersatzstimme kommt nur dann zum Tragen, wenn der Wähler seine Hauptstimme verliert. Sie ist die letzte Chance, mit der der Wähler seine Wählerstimme verwirklichen kann. Deshalb sind Haupt- und Ersatzstimmen genau gleich viel wert (Zählwertgleichheit). Diese Gleichheit ermöglicht es, die beiden Zahlen einfach zu summieren.
Das Risiko des Stimmverlusts ist eine bewusste Inkaufnahme des Wählers und verdient daher keine Kompensation durch eine Ersatzstimme.
Einordnung: Dies ist letztlich Wertungsfrage. Warum lassen wir es überhaupt zu, Wähler dem Risiko (ob bewusst oder nicht) auszusetzen? Dadurch zwingen wir sie (im Unterschied zu Wählern etablierter Wahlbewerber) in Dilemmas. Im Ersatzstimmensystem verlagert sich das Dilemma zumindest auf die Ersatzstimme, wodurch wir eine reale Verbesserung für Menschen dieser Wählergruppe erreichen.
Das BVerfG hat doch schon geurteilt, dass die Ersatzstimme nicht verfassungskonform ist!
Einordnung: Das BVerfG stellte in seinem Urteil (BVerfG Leitsatz, 2017) keine Verfassungswidrigkeit der Ersatzstimme fest, sondern lediglich, dass es verfassungsrechtlich “nicht geboten” ist, die Ersatzstimme einzuführen. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, die Ersatzstimme einzuführen (es jedoch könnte).
Die Ersatzstimme stellt die Ernsthaftigkeit der Hauptstimme in Frage.
Behauptung: Der Wähler könnte seine Hauptstimme im Sinne eines Freischusses vergeben, ohne dass damit die notwendige Ernsthaftigkeit verbunden wäre, die eine Wahlentscheidung erfordert, denn es würde ja immer noch eine weitere Stimme berücksichtigt. Ersatzstimmen sind keine vollwertigen Stimmen. Ein Parlament sollte nur mittels Erstpräferenzen gewählt werden und nicht mit “zweitbesten Voten”.
Einordnung: Die Behauptung ist unbegründet. Zunächst gilt, dass für jeden Wähler am Ende höchstens eine Stimme wirksam geworden ist, entweder die Hauptstimme oder die Ersatzstimme oder keine von beiden. Die Ersatzstimme kann nur dann wirksam werden, wenn die Hauptstimme unwirksam ist. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Wähler seine Hauptstimme wahllos oder ohne ernsthafte Erwägungen vergeben sollte, ganz besonders, weil die Hauptstimme die Stimme ist, die zuerst ausgewertet wird.
Wenn die o.g. Behauptung aus subjektiver Sicht zuträfe, wäre das geltende Wahlrecht nicht besser, weil sich durch die taktische Stimmabgabe aus dem Ergebnis kaum die tatsächlichen Erstpräferenzen der Wähler ablesen lassen. Im Ersatzstimmensystem geben die Hauptstimmen die Erstpräferenzen der Wähler weitestgehend unverfälscht wider.
Ein Wähler, dessen Haupt-, aber nicht Ersatzstimme zum Zuge kam, wird unfair benachteiligt.
Einordnung: Unter der realistischen Annahme, dass der Wähler seine Hauptstimme an seine tatsächliche Erstpräferenz vergeben hat, kann davon ausgegangen werden, dass ein Erfolg seiner Hauptstimme ganz im Sinne des Wählers ist. Insbesondere würde der Wähler den Erfolg seiner Hauptstimme dem alternativen Erfolg seiner Ersatzstimme vorziehen. Die Ersatzstimme kompensiert lediglich den Wegfall der Hauptstimme. Sie ist eine Absicherung, die im Sinne des Wählers nur dann greifen soll, wenn die Hauptstimme verfiel.
Gedanklich fungiert die Ersatzstimme ja wie ein zweiter Wahlgang. Wenn der Lieblingskandidat im zweiten Wahlgang wieder antritt, so würde der Wähler diesen logischerweise wieder wählen.
Die Ersatzstimme stärkt einseitig größere Parteien.
Behauptung: Da diese Ersatzstimme wahrscheinlich einer aussichtsreichen Partei gegeben wird, würden damit im Endeffekt die größeren Parteien gestärkt.
Einordnung: Die Behauptung ist irreführend. Zwar ist in der Tat erwartbar, dass größere Parteien in absoluten Zahlen mehr Stimmen erhalten werden (da zu ihren Hauptstimmen zusätzlich Ersatzstimmen kommen). Allerdings erhöht das nicht ihre Chancen gegenüber den kleinen Parteien, weil sie lediglich die Ersatzstimmen von bereits gescheiterten Parteien erhalten. Die Ersatzstimmen führen hauptsächlich zu einer Veränderung der Stimmverteilung der erfolgreichen Parteien, da bspw. die Kleinparteiwähler nun auch “mitreden” können. Dadurch erhöht sich die Legitimität der resultierenden Wahlsieger.
Große Parteien rauben den kleinen Parteien die Wähler.
Behauptung: Die Erschließung von Wählern von Kleinparteien in große Parteien könnte den kleinen Parteien schaden.
Einordnung: Diese Behauptung ist sehr hypothetisch. Das hängt stark von den Umständen, der involvierten Parteien, der Themen, der Erschließungsstrategie usw. ab. Es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb der behauptete Effekt großflächig kleinen Parteien schaden würde.
Die Ersatzstimme überfordert Wahlvorstände und Wahlhelfer.
Behauptung: Wegen der zusätzlichen Stimme und des aufwendigeren Auszählungsverfahrens kommt es zu Problemen.
Einordnung: Das bayerische und das hessische Kommunalwahlrecht sind beide erheblich komplizierter als das Ersatzstimmensystem - und dennoch funktionieren sie. Auch das Gutachten des Brandenburgischen Parlamentarischen Beratungsdiensts kam zum Ergebnis, dass der Mehraufwand gut zu bewältigen sei (Lenz, 2024), selbst im komplizierteren Fall der Integrierten Stichwhal.
Die Ersatzstimme ist trotzdem ungerecht.
Behauptung: Wer sowohl mit Haupt- als auch Ersatzstimme erfolglose Parteien bzw. Kandidaten wählt, bleibt am Ende trotz Ersatzstimme unberücksichtigt, hat also durch die Ersatzstimme nichts gewonnen.
Einordnung: Solche Fälle können zwar durchaus auftreten. Das System der Ersatzstimme ist jedoch insgesamt deutlich gerechter als das geltende Wahlrecht, da es in Summe zu deutlich mehr berücksichtigten Wählern führt. Nur im Worst Case verliert ein Wähler beide seine Stimmen. Und bei der Hauptstimme müssen sich die Wähler künftig nicht mehr verbiegen.
Das jetzige Wahlsystem ist doch ausreichend.
Behauptung: Deutschlands aktuelles Wahlsystem hat zwar seine Macken, aber dann ist das halt so! Es hat sich bewährt, never change a running system!
Einordnung: Wir haben die Wahl: Entweder belassen wir das Wahlsystem so wie es ist und akzeptieren die Probleme und Schwächen wie mangelnde Repräsentativität, Millionen verlorener Stimmen, taktische Wahl, Polarisierung, geringe Wahlbeteiligung bei Stichwahlen, unnötige Durchführungskosten von Stichwahlen etc., oder wir ergreifen aktiv die Chance, eine echte Verbesserung für Deutschlands Demokratie zu erreichen.
Weiterführendes
Ergänzende Maßnahmen
Siehe Ergänzendes.