Mark Rothermel - Version 3.1

Dieses Mini-Wiki bündelt alle wichtigen Informationen rund um das Wahlsystem der Ersatzstimme.

Zusammenfassung

Das aktuelle deutsche Wahlsystem leidet unter einigen Schwächen. Durch die 5%-Hürde gehen regelmäßig große Mengen Stimmen verloren (rund 4 Mio bei der BTW 2021 und 22,3% bei der LTW im Saarland 2022). Der Stimmenverlust ist nicht nur ein Einschnitt in die Wahlgleichheit, sondern schwächt auch die Repräsentativität des Wahlergebnisses und damit die Legitimität des Wahlsiegers. Außerdem ruft das System Wählerdilemmas hervor, die zum taktischen Wahlverhalten zwingen, besonders bei Mehrheitswahlen. Zusätzlich begünstigt das Wahlsystem extremistische Kandidaten und fördert Polarisierung. Kleine und neue Parteien oder Kandidaten werden durch das taktische Wahlverhalten künstlich benachteiligt.

Eine in der Wissenschaft vielfach diskutierte und empfohlene (Decker, 2016; Jesse, 2016; Holste, 2007; Dilger, 2021), jedoch in der Politik bisher begrenzt beleuchtete Lösung ist die Einführung der Ersatzstimme. Die Ersatzstimme ist eine freiwillige zweite Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann, die dann zählt, wenn seine eigentliche Stimme, die sogenannte “Hauptstimme”, unwirksam geworden ist, bspw. aufgrund einer Sperrklausel. Die Ersatzstimme fungiert virtuell wie ein zweiter Wahlgang. Sie mildert nicht nur die o.g. negativen Effekte (Dilger, 2021; BVerfG Leitsatz, 2017; Benken, 2022), sondern bringt einige weitere Vorteile mit sich. Dazu zählen eine erhöhte Ausdrucksfähigkeit des Wählerwillens (Hellmann, 2016), Depolarisierung, Kosteneinsparungen durch Integrierung der Stichwahl in einen einzigen Wahlgang, höhere Wahlbeteiligung und Reduktion von taktischem Kandidaturverzicht.

Allerdings ist die Wahl mit Ersatzstimme komplizierter als die Wahl mit einer Stimme, was die Anzahl ungültiger Stimmen steigern kann. Zudem erfordert die Auszählung mehr Aufwand und die Ergebnisse sind anspruchsvoller nachzuvollziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass mehr kleine Parteien die 5%-Hürde schaffen könnten, da Wähler aufgrund des beseitigten Verlustrisikos eher dazu bereit sind, sie zu wählen. Dies könnte zu mehr Parteien in Koalitionen führen. Außerdem ist das Konzept der Ersatzstimme relativ unbekannt, weshalb eine Umgewöhnung der Bevölkerung nötig werde. Während bisherige Gutachten die Verfassungsmäßigkeit der Ersatzstimme nicht abschließend bestimmten, betrachtet die rechtswissenschaftliche Literatur die Ersatzstimme “vielfach als verfassungskonform” (Wiss. Dienst d. BT, 2022). Zwar könnten die Grundsätze der Unmittelbarkeit sowie der Gleichheit der Wahl berührt sein, was sich jedoch ggf. mit der Milderung der Sperrklauseleffekte rechtfertigen ließe. Das BVerfG sah 2017 keine Pflicht des Gesetzgebers, die Ersatzstimme einzuführen (BVerfG Leitsatz, 2017). Das neuliche Urteil des BVerfG zur Wahlrechtsreform der Ampel (BVerfG-Pressemitteilung, 2024) hielt fest, dass die 5%-Sperrklausel in ihrer reinen Form (ohne Grundmandatsklausel) zu stark in die Wahlgleichheit eingreifen würde. Das BVerfG ruft explizit zur Reform der Sperrklausel auf.

In Deutschland sind aktuell keine öffentlichen Wahlen mit Ersatzstimme implementiert. Initiativen zur Einführung wurden 2012 in Schleswig-Holstein sowie 2015 im Saarland, in beiden Fällen von den Piraten, unternommen, fanden jedoch keine Mehrheit. 2022 wurde die Ersatzstimme im Rahmen der Bundestagswahlreform als Lösung zur Vermeidung verwaister Wahlkreise diskutiert, jedoch nicht umgesetzt. Seit 2024 wird in Brandenburg die Einführung der mit der Ersatzstimme verwandten “Integrierten Stichwahl” diskutiert.

Die Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der sogenannten Präferenzwahl, bei der es zusätzlich zur Ersatzstimme beliebig weitere Nebenstimmen gibt, die wie eine Rangfolge fungieren. Obwohl die Präferenzwahl komplizierter ist als die Ersatzstimme, wurden seit 2000 in den USA rund 50 Regionen und Städten die Präferenzwahl implementiert (FairVote). Umfragen zeigen, dass Wähler das System gut verstehen und bevorzugen. In Ländern wie Irland, Australien und Malta wird die Präferenzwahl seit einem Jahrhundert in spezieller Form für Parlamentswahlen angewendet.

Die positiven Effekte, die Empfehlungen aus der Wissenschaft und die internationalen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Ersatzstimme eine vielversprechende Reformoption für Deutschland ist.

Einleitung: Wir brauchen eine Wahlreform

Im August 1949 fand die erste Bundestagswahl statt. Seit nun über 75 Jahren ist das deutsche Wahlsystem das Fundament eines bislang stabilen und geregelten politischen Systems, das für Freiheit, Gerechtigkeit und Teilhabe steht. Mit der personalisierten Verhältniswahl hat Deutschland ein Wahlsystem, das die Vielfalt der politischen Meinungen im Land abbildet und zugleich Dank 5%-Hürde stabile und arbeitsfähige Mehrheiten schafft.

Als Demokrat schätzt man das deutsche Wahlsystem. Ein ehrlicher Demokrat erkennt jedoch, dass selbst ein so bewährtes System Schattenseiten aufweist. Stimmenverluste durch die 5%-Hürde, die Schwächung kleiner Parteien, das taktische Wahlverhalten und die Förderung von Extremismus und Polarisierung sind einige davon. Ein wirklich wahrer Demokrat entwickelt Reformen, um diese Probleme zu lösen und die Demokratie zu stärken.

Nach nun 75-jährigem Bestehen ist Zeit für eine tiefgehende Reform des deutschen Wahlsystems, um seine Schwächen zu lösen - weitreichender als jede Wahlreform der letzten Jahrzehnte. Als konstruktiven Beitrag zur Reformdebatte schlägt dieses Wiki die Einführung des Systems der Ersatzstimme für das deutsche Wahlsystem vor. Dabei bezeichnet das “deutsche Wahlsystem” die momentan geltenden Regeln für alle öffentlichen Wahlen in Deutschland, insb. die Bundestagswahl (BTW), jede Landtagswahl (LTW), Bürgermeisterwahlen, Landratswahlen, etc.

Die Probleme des deutschen Wahlsystems

Terminologie

Was ist die Ersatzstimme?

Eine Ersatzstimme ist eine zusätzliche Stimme, mit der der Wähler eine zweite Präferenz angeben kann. Die Ersatzstimme (auch Alternativstimme oder Eventualstimme) genannt, zählt nur dann, wenn die eigentliche Stimme (die Hauptstimme) wirkungslos war, etwa wegen der 5%-Hürde.

Die Stimme für die erste Präferenz wird auch als Hauptstimme bezeichnet. Mit “Ersatzstimme” ist je nach Kontext die Wählerstimme oder das Wahlsystem gemeint. Das System der Ersatzstimme ist der einfachste Spezialfall der Präferenzwahl.

Musterstimmzettel

Die Bundestagswahl 2021 hätte mit Ersatzstimme auf dem Stimmzettel so aussehen können (hier “Wahlkreisstimme” statt “Erststimme” und “Listenstimme” statt “Zweitstimme”, um mögliche Verwechslungen zu vermeiden).

Aggregationsverfahren

Es gibt mehrere Möglichkeiten, die abgegebenen Stimmen in die Verteilung der Mandate zu übersetzen. Diese Verfahren werden als Aggregationsverfahren (oder Auszählungsverfahren) bezeichnet. Von ihnen hängt das genaue Resultat ab.

Ein geeignetes Aggregationsverfahren ist das der Integrierten Stichwahl (s. auch Dilger (2021) ). Bei diesem iterativen Verfahren werden im ersten Schritt nur die Hauptstimmen auf alle Optionen verteilt. Hat (im Falle einer Mehrheitswahl) kein Kandidat die nötige Mehrheit oder unterliegt (im Falle einer Verhältniswahl) eine Partei einer Sperrklausel, so wird die Option mit den wenigsten Hauptstimmen eliminiert und ihre Stimmen gemäß der Ersatzstimmen auf die übrigen Optionen übertragen. Dieser Schritt der Eliminierung wird solange mit der jeweils stimmschwächsten Option wiederholt bis (im Fall der Mehrheitswahl) ein Sieger feststeht bzw. (im Fall der Verhältniswahl) keine Partei mehr einer Sperrklausel unterliegt.

Variationen

Einstufige Übertragung

Oben wurde die mehrstufige Aggregation beschrieben. Diese kann stattdessen einstufig erfolgen, indem alle Optionen unterhalb der Sperrklausel bzw. alle Kandidaten bis auf die besten zwei auf einmal eliminiert werden. Dieses Verfahren hat die Vorteile, dass es einfacher ist und paradoxe Spezialsituation vermeidet, in der es vorteilhaft sein kann, eine verhasste Option zu wählen.

Eingeschränkte Übertragung

In dieser Variante könnte es Parteien bzw. Kandidaten gestattet werden, zu bestimmen, welche anderen Parteien bzw. Kandidaten nach ihnen als Ersatz erlaubt sind. Ein OB-Kandidat der SPD könnte bspw. bestimmen, dass im Falle seines Ausscheidens seine Stimmen an alle außer den AfD-Kandidaten übertragen werden dürften.

Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat die Wahlfreiheit des Wählers einschränkt (Verletzung der Bedingungslosigkeit der Wahl).

Festgelegte Übertragung

Bei dieser Variante gibt es de facto keine Ersatzstimmen, sondern die Parteien bzw. Kandidaten bestimmen, an wen ihre Stimmen im Falle des Ausscheidens übertragen werden sollen. Im allgemeinsten Fall können Parteien frei wählen, wie ihre Stimmen anteilig an die übrigen Parteien übertragen werden sollen.

Diese Variante ist wahrscheinlich nicht ohne Anpassung des Grundgesetzes möglich, weil die Partei bzw. der Kandidat über die Stimme des Wählers entscheidet (Verletzung der Unmittelbarkeit der Wahl).

Bewertung der Ersatzstimme

Stärken

Schwächen

Einige der Schwächen können mit ergänzenden Maßnahmen abgemildert werden.

Offene Fragen

Besonderheiten und mögliche weitere Effekte der Ersatzstimme

  • Mehr Aufmerksamkeit für kleine Parteien: Weil auch Kleinparteien eine ernsthafte Wahloption darstellen (Graeb & Vetter, 2018), könnten sich im Vorfeld der Wahl die Wähler womöglich mehr mit ihnen auseinandersetzen. Außerdem wollen die großen Parteien die Ersatzstimmen der kleinen Parteien erhalten, wodurch ein Anreiz entsteht, dass die großen Parteien die Wünsche von Kleinpartei-Wählern adressieren (Institut für Wahlreform).
  • Auf diese Weise können große Parteien neue Wählerschichten erschließen (Benken, 2022), indem sie nämlich Ersatzstimmen von Wählern erhalten, sie nur Kleinparteien wählen, aber ihre Ersatzstimme zur Absicherung nutzen. Dieser Effekt erhöht auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Kleinpartei-Wähler bekommen das Gefühl, mit ihrer politischen Meinung am Ende doch noch ernst genommen zu werden. So kann die Ersatzstimme die Identifikation mit dem System der repräsentativen Demokratie erhöhen (Institut für Wahlreform).
  • Die Ersatzstimme zieht die negativen Eigenschaften der Hauptstimme auf sich. Das betrifft insbesondere Wählerdilemmas, die zum taktischen Wählen zwingen. Die Hauptstimme kann gänzlich gemäß der Vorliebe des Wählers vergeben werden.
  • Im Ersatzstimmensystem werden Koalitionswünsche sichtbar: Durch die auftretenden Kombinationen aus Haupt- und Ersatzstimmen wird ersichtlich, welche Partei wie häufig mit welcher anderen Partei angegeben wurde, eine unvergleichbare Datengrundlage, die den Wählerwillen bzgl. der Koalitionsbildung widergibt.
  • Neueinsteiger im Bundestag waren bei den letzten Malen immer extreme Parteien (AfD und BSW). Eine Ersatzstimme könnte zu Newcomern aus der Mitte verhelfen.

Erfahrungen mit der Ersatzstimme

Ersatzstimmeninitiativen in Deutschland

In Deutschland gab es bereits in zwei Landtagen (Schleswig-Holstein 2012 - 2016 und Saarland 2015) den Versuch, die Ersatzstimme auf politischem Wege einzuführen. Beide Initiativen scheiterten. Im Zuge der Bundestagswahlrechtsreform von 2022 wurde die Ersatzstimme kurzzeitig für die sehr spezielle Situation von Wahlkreissiegern mit fehlender Zweitstimmendeckung diskutiert, jedoch verworfen. Aktuell wird in Brandenburg die Einführung der Integrierten Stichwahl debattiert.

2011 versuchte ein Bürger per öffentlicher Petition die Einbringung der Ersatzstimme in den Bundestag. “In der achtwöchigen Mitzeichnungsfrist hatten sich nicht einmal 400 Unterstützer gefunden. Der Bundestag lehnte den Vorstoß im April 2011 ab.” (SHZ)”

Mehr Demokratie e.V. setzt sich für diverse demokratiefördernde Reformen ein, darunter für die Ersatzstimme, s. bspw. ihren Bericht und Aufzeichnung ihrer “InitiativTagung” zur Ersatzstimme oder ihre Online-Petition. Konkret unternahm Mehr Demokratie e.V. den Versuch, die Ersatzstimme in Berlin einzuführen. “Die Innenbehörde des Senats erklärte den Vorstoß […] für rechtlich nicht zulässig; die Ersatzstimme verstoße gegen den Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Wahl“.” (SHZ)

Eine Probeabstimmung auf Abstimmung21 ergab eine Unterstützung von 72% für die Ersatzstimme, wobei viele der übrigen Stimmabgaben Enthaltungen waren.

Die Ersatzstimme und verwandte Wahlsysteme in anderen Ländern

Als einzige Region der Welt, in der die Ersatzstimme in der hier beleuchteten Form genutzt wurde, war Großbritannien, was die Ersatzstimme jedoch 2022 wieder abschaffte. Gegenwärtig ist kein öffentliches Wahlsystem auf der Welt bekannt, das die Ersatzstimme nutzt. Allerdings existieren zahlreiche Regionen, die das deutlich komplexere System der Präferenzwahl anwenden, welches eine Verallgemeinerung der Ersatzstimme ist.

Folgende Länder und Regionen haben die Ersatzstimme oder die Präferenzwahl implementiert (klicke auf den Ländernamen für eine detaillierte Zusammenfassung der dortigen Situation).

RegionAmt/GremiumWahlsystemAggregationEingeführt
QueenslandLegislative AssemblyIntegrierte Stichwahleinstufig1892 - 1942
IrlandParlamentÜbertragbare Einzelstimmgebungmehrstufig1921
MaltaParlamentÜbertragbare Einzelstimmgebungmehrstufig1921
IrlandPräsidentIntegrierte Stichwahlmehrstufig1938
AustralienParlamentÜbertragbare Einzelstimmgebungmehrstufig1948
Ski LankaPräsidentIntegrierte Stichwahleinstufig1978
IndienPräsidentIntegrierte Stichwahlmehrstufig?
GroßbritannienBürgermeisterErsatzstimmeeinstufig2000 - 2022
Regionen in den USABürgermeister & ParlamentePräferenzwahlmehrstufig2000
Papua NeugineaParlamentPräferenzwahl bis Rang 3mehrstufig2003
NeuseelandLokale Parlamente & BürgermeisterIntegrierte Stichwahl & Übertragbare Einzelstimmgebungmehrstufig2004

Für weitere Beispiele, siehe Wikipedia.

Literatur

Juristische Gutachten

Wissenschaftliche Paper

Geläufige Gegenargumente & Mythen

Weiterführendes

Ergänzende Maßnahmen

Siehe Ergänzendes.