Zusammenfassung

In der Vorbereitungsphase der Wahlrechtsreform wurde die Ersatzstimme als mögliche Lösung für den sehr speziellen Fall diskutiert, verwaiste Wahlkreise zu vermeiden. Die Idee wurde im weiteren Verlauf aber als “wenig überzeugend” bezeichnet und nicht weiter verfolgt. Gründe sind laut Gesetzentwurf (2023) verfassungsrechtliche Bedenken, Überfluss, da die Stimme “in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde” (nämlich in 97% der Fälle (InitiativTagung, 2022)), und praktische Umstände, weil eine Ersatzstimme eine Umstellung des Wahlakts für den Wähler bedeuten würde. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellte für die Ersatzstimme im vorgeschlagenen Setting eine potenzielle Beeinträchtigung von Wahlgrundsätzen fest, die aber ggf. ausreichend legitimiert werden können (s. Ausarbeitung des Wiss. Dienstes des Bundestags 2022).

Hintergründe

Die Wahlrechtsreform führt die Verbundene Mehrheitswahl ein. Wenn ein Direktkandidat einen Wahlkreis gewonnen hat, aber keine ausreichende Zweitstimmendeckung hat, wird ihm kein Mandat zugeteilt (verbundene Mehrheitsregel). Damit der Wahlkreis nicht unbesetzt bleibt, wurde die Einführung von Ersatzstimmen vorgeschlagen, um so einen alternativen Gewinner ermitteln zu können. Mit der Ersatzstimme können die Stimmen des mandatslosen Erstplatzierten auf die übrigen Kandidaten verteilt werden.

Der oben beleuchtete Spezialfall der fehlenden Zweitstimmendeckung ist eine Situation, die anders und nur begrenzt vergleichbar ist mit der Forderung, die in diesem Dossier beleuchtet wird. Der Hauptunterschied liegt darin, dass nicht Verlierer (bspw. eine Partei unter der 5%-Hürde), sondern Gewinner gesperrt werden.

Die Wahlrechtskommission schlug neben der Ersatzstimme auch andere Modelle vor, mit denen unbesetzte Wahlkreise vermieden werden können, unter anderem ein Präferenzwahlsystem (Eckpunktepapier Wahlrechtskommission, 2022).

Im Gesetzentwurf der Ampel-Regierung für die Wahlrechtsreform (Gesetzentwurf, 2023) wurde die Ersatzstimme als eine von mehreren “nur weniger überzeugenden Alternativen” angeführt: “Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken wäre mit diesem Modell die Einführung einer weiteren Stimme verbunden, die in den allermeisten Fällen nicht ausgezählt würde. Im Übrigen bedeutete dies die größte Umstellung für die Bürgerinnen und Bürger beim Wahlakt selbst. Auch das erscheint nicht vorzugswürdig.”

Konstantin Kuhle, einer der Mitinitiatoren der Ersatzstimme in diesem Kontext, erläuterte: “Die Diskussionen im Parlament und in der Öffentlichkeit haben uns jedoch davon überzeugt, dass eine solche Lösung aufgrund ihrer Komplexität auf Akzeptanz- und Legitimations­probleme stoßen würde.”

Im Juli 2024 urteilte das BVerfG zur Wahlreform, siehe BVerfG 2024.