Dr. Stefan Lenz (Juni 2024) - Zum Gutachten

Zusammenfassung

Der Parlamentarische Beratungsdienst des Brandenburger Landtags analysierte 2024 auf 139 Seiten das System der Integrierten Stichwahl (ein zur Ersatzstimme eng verwandtes System) für die Wahl von Bürgermeistern und Landräten. Das Gutachten befindet die Integrierte Stichwahl (selbst in alternativen Ausführungen) für verfassungskonform hinsichtlich sowohl Grundgesetz als auch Landesverfassung. Einzig kritisch sei das Optionsmodell, wonach den Kommunen freigestellt wird, selbst zu entscheiden, ob sie die Integrierte Stichwahl für die Wahl ihrer Bürgermeister bzw. Landräte anwenden. Der Grund liegt darin, dass die kommunalen Entscheidungsträger den Wechsel des Wahlsystems mit der Absicht herbeiführen könnten, ihre Konkurrenz gezielt zu benachteiligen. Demnach müsse der Landesgesetzgeber die Integrierte Stichwahl wenn, dann für alle Kommunen einführen.

Verfassungsmäßigkeit

Die Einführung der Integrierten Stichwahl im gesamten Land für die Wahl von Bürgermeistern und Landräten ist sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit der Landesverfassung von Brandenburg vereinbar. Das Gutachten prüft in Detail die Einhaltung

  • der Wahlrechtsgrundsätze (Freiheit, Unmittelbarkeit, Gleichheit, Allgemeinheit, Öffentlichkeit und Geheimheit),
  • des Rechts der Parteien und Kandidaten auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb und in der Wahl und
  • des Verfassungsgebots der Bestimmtheit und Normenklarheit und befindet dabei positiv die Einhaltung aller Punkte.

Dabei ist unabhängig,

  • ob eine ein- oder mehrstufige Aggregation angewendet wird,
  • ob eine oder mehrere Nebenstimmen zugelassen sind (insbesondere schließt dies das System der Ersatzstimme ein),
  • wie die fiktiven Wahlgänge aufgefasst werden und
  • ob alle Nebenstimmen verpflichtend verwendet werden müssen.

Die Erfolgschancengleichheit ist erfüllt, weil dieselben Regeln für alle Wähler unterschiedslos gelten. “Auch die Zählwertgleichheit ist gegeben, weil jedem Wahlberechtigten bei der Wahlhandlung gleich viele Stimmen zustehen.” “Entscheidend ist also, dass Präferenzstimmen desselben Wählers nie kumulativ, sondern alternativ gutgeschrieben werden.”

Monotonieversagen

Es kann passieren, “dass ein Wähler zwar für seinen bevorzugten Kandidaten stimmt, ihm aber noch mehr genützt hätte, wenn er ein ganz bestimmtes alternatives Stimmverhalten gezeigt hätte.”

Das BVerfG hält dies für verfassungswidrig, wenn der Umstand durch einfache Anpassungen des Wahlrechts vermieden werden könnte, ohne dabei den Wahlsystemtyp verlassen zu müssen. Das Monotonieversagen aber ist eigen und unvermeidbar in Präferenzwahlsystemen. Eine Vermeidung würde also eine Abwendung vom gesamten Wahlsystemtyp zur Folge haben. “Daher ist die Integrierte Stichwahl mit den Maßstäben des BVerfG vereinbar.”

Normenklarheit

Die Integrierte Stichwahl und auch die Ersatzstimme lassen “sich so in Rechtsform gießen, dass die Wahlorgane sie ordnungsgemäß anwenden können und das gebotene Maß an Verständlichkeit der Vorschriften für juristisch nicht vorgebildete Wahlberechtigte nicht unterschritten wird.”

Verletzung der Chancengleichheit im Optionsmodell

Überlässt das Land den einzelnen Kommunen die Entscheidung, ob sie konventionell oder per integrierter Stichwahl wählen wollen (Optionsmodell), so begeht der Gesetzgeber wahrscheinlich eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien/Kandidaten zwar nicht in der Wahl, aber im Wettbewerb.

“Da das Wahlsystem die Erfolgsbedingungen im politischen Wettbewerb bestimmt, ist jede Wahlrechtsänderung geeignet, irgendjemandes Wettbewerbschancen, also seine Aussichten auf den Gewinn von Ämtern und Mandaten, faktisch zu schmälern.” Dass die Wettbewerbschancen der Wahlbewerber verändert werden, hat jede Wahlreform an sich und ist unproblematisch, solange für jeden Wahlbewerber unterschiedslos dieselben Regeln gelten.

Entscheidend aber ist, dass zu erwarten ist, dass in manchen Fällen die kommunalen Entscheidungsträger die Umstellung des Wahlsystems mit der Motivation durchführen werden, andere (oppositionelle) Wettbewerber gezielt zu benachteiligen (Benachteiligungsabsicht). Kommunale Entscheidungsträger können nämlich verlässliche Vorhersagen über die Chancen der Bewerber treffen. Dieser Umstand ist nicht verfassungskonform und diesen hätte der Landesgesetzgeber mittelbar zu verantworten, was als Verfassungsbruch zu werten wäre. Deshalb sei das Optionsmodell wahrscheinlich nicht zulässig.

Anwendbarkeit

Das Gutachten hält fest, dass das System der Ersatzstimme zum selben Wahlsystemtyp (“Präferenzstimmsystem”) zählt wie die Integrierte Stichwahl. Besonders im Fall der Londoner Bürgermeisterwahl, welche die Ersatzstimme anwendete, unterscheidet das Gutachten nicht von der Integrierten Stichwahl. Entsprechend dürften alle getroffenen Argumente auch auf die Ersatzstimme anwendbar sein.